Eiskalte Berge

Klimawandel mal anders! - In diesem dystopischen Roman geht es um plötzlich lebensfeindliche Bedingungen auf der Erde durch einen Megatsunami, der von Norden nach Süden braust und auch die Alpenlandschaft nicht verschont. Eine zweite Sintflut, wenn man so will, ausgelöst durch eine kosmische Katastrophe, über die im Roman vage spekuliert wird.

Eine der Personen ist belesen genug in alten Geschichten, die sich um den Untergang des mythischen Atlantis ranken. Irgendetwas, das damals das kleine geheimnisvolle Inselreich untergehen ließ, habe womöglich erneut die Schwerkraft verändert. Der Mond sei dadurch näher an die Erde gerückt, quasi von ihr eingefangen worden. DIe Gezeiten und die Meere hätten sich verändert und so die Katastrophe ausgelöst.


Manfred Schumacher, Eiskalte Berge, erschienen 2022 im vss-verlag, Frankfurt, ISBN 979-8842587940, 442 Seiten, 17,95 Euro








Das passiert: Die mysteriöse riesige Flutwelle verändert von jetzt auf gleich das Leben deutscher Urlauber in Tirol. Unter ihnen Jessica, Elsi und einige andere. Sie retten sich in eine Berghütte und kämpfen in den von gewaltigen Wassermassen umspülten Hängen zunehmend um ihr Überleben. Die Dinge spitzen sich weiter zu, als ein psychopathischer Killer versucht, Diamanten in seinen Besitz zu bringen, die beim Absturz eines Kleinjets entwendet wurden.

Aus Urlaub wird unversehens Abenteuerurlaub. Die kleine, zufällig zusammengewürfelte Gruppe findet sich unvermittelt in einer alpinen Albtraumlandschaft wieder, in der das Wasser fast bis an die Bergwipfel reicht und sie in einer Berghütte fortan damit beschäftigt sind zu überleben. In dieser neuen, unschönen Welt müssen sie jetzt sowohl gegen die Natur kämpfen als sich auch vor den Mitmenschen hüten.

Das Armageddon in den Bergen fördert einige seltsame Ereignisse zutage. In den überfluteten österreichischen Bergen strandet ein U-Boot, in dem verschiedene Personen Schutz suchen. Es kommt zu einer Ratten- und Wolfsplage, und in den Resten eines versunkenen Deutschland entsteht ein „Deutscher Zonenbund“ mit einer provisorischen Regierung in Oberwiesenthal. Einer Regierung näm-lich der wenigen Zonen, die als Inseln aus einem Meer von Wasser ragen. Und – das Meer friert allmählich zu.

Leseprobe

("EIskalte Berge". Seiten 7 - 18)

Die Frau mit dem grau gesträhnten Haar wartete. Sie wartete schon mehrere Sekunden, harrte geduldig in ihrem gelb geblümten Kleid aus, das einen Hauch von Dirndl hatte. Ihre Augen, alt, faltig und ein wenig wässrig, ruhten tief in einem müden Gesicht. Müde vom ständig frühen Aufstehen, von der Arbeit an der frischen Luft in der Landwirtschaft. Wahrscheinlich bei Wind und Wetter, wahrscheinlich auch seit frühen Jahren. Die Pension neben der Landwirtschaft betrieb sie mit ihrem Mann seit über dreißig Jahren, wie sie an einem der vorherigen Tage erzählt hatte. Fünf Gästezimmer, zwei davon kleine Apartments, zwei Doppel- und ein Einzelzimmer.

Dazu gehörte auch ein kleiner Frühstücksraum, in dem die Frau gerade vorhin ihre Frage gestellt hatte und immer noch unbeirrt dastand, ihren abwartenden Blick auf das Gesicht der Rothaarigen mit der blassen Haut und den hellen Sommersprossen gerichtet. Endlich nickte die Rothaarige zur Antwort. Die Pensionswirtin, die mit dem Serviertablett in ihren Händen wartete, nickte zurück. Wortlose Entgegnung auf die gleichfalls stumme Antwort, mit der die Rothaarige auf ihre Bemerkung reagiert hatte.

Die Hände der Pensionswirtin griffen über den Tisch und sammelten die Reste vom Frühstück ein. Teller, Tassen, Untertassen und Besteck, auch Eierbecher, an denen gelbe Flecke von Dotter klebten. Ebenso die von Resten roter und gelber Marmelade und Konfitüre verschmierten gläsernen Miniaturschälchen. Mit vollem Tablett trottete sie davon. Sie verschwand durch einen Rundbogen in einen Raum, in dem die rothaarige Frau, die Jessica Bringmann hieß, die Küche vermutete.

Jessica war heute Morgen nicht bei der Sache. Deshalb hatte sie die Pensionswirtin auch sekundenlang auf eine Antwort warten lassen. Frau Ammann, so hieß sie, hatte sie sicher für unhöflich gehalten. Eine dieser unfreundlichen Piefkes eben, von denen ihr sicher bereits viele untergekommen waren. Jessica überlegte einen Moment, ob sie sich übermorgen, vor der Abreise, dafür entschuldigen sollte. Im nächsten Moment hatte sie es wieder vergessen.

Ihr Blick wanderte zu Verena, die ihr gegenübersaß. Vreni, ihre beste Freundin, solange sie sich zurückerinnern konnte. Fast seit Sandkastenzeiten, so viel war sicher. Jessica strich sich eine rote Locke aus der Stirn und schielte zu Fabian, Vrenis Mann Fabian Sturm, der rechts neben Vreni saß und sich den Rest vom Käsebrötchen in den Mund schob. Sein Gesicht war länglich wie seine ganze Gestalt und wirkte beim Kauen noch kantiger, als es ohnehin war. Jessicas Blick wechselte wieder zu Vreni, kurz und verstohlen, blieb für den Bruchteil einer Sekunde an ihrem schwarzen Haar hängen, dem sie seit Jahren einen Pagenschnitt verpasste. Gleich darauf wanderte er hinunter zu dem großen Mund, den sie mit knallrotem Lippenstift betonte, dann wieder hoch zu ausdruckslosen Augen und müden Lidern.

Sie hatten fast stumm gefrühstückt, routiniert wie ein eingespieltes Team – alle drei. Vreni und Fabian hatten sich, nachdem Jessica sich vor drei Monaten nach neun Jahren von Jens getrennt hatte, intensiv um sie gekümmert. Gemeinsame Frühstücke nach etlichen gemeinsamen Übernachtungen inklusive, bei denen die Frauen abwechselnd geheult und über Jessicas Ex abgelästert hatten. Fabian hatte meist aufmerksam und rücksichtsvoll auf seine unaufdringliche Art dabeigesessen, Anteil genommen. Eben lieb und nett, wie er war, und das war vielleicht auch Teil des Problems. Vrenis Vorschlag, ein verlängertes Wochenende in den Bergen zu verbringen, war ebenfalls Teil der gemeinsamen Trauerarbeit in Sachen Ex gewesen. So waren es die Österreicher Lechtaler Alpen geworden.

Weil alle drei routinierte Wanderer waren, die auch vor Bergrouten nicht zurückschreckten, war der Plan gewesen, sich in Tagestouren und einer abschließenden Zweitagestour ordentlich zu verausgaben und die Abende bei gutem Essen in gemütlicher Runde ausklingen zu lassen. Zwei Touren hatten sie schon hinter sich. Heute sollte es über das Gufelgrasjoch zur Steinseehütte gehen, eine der vom Alpenverein empfohlenen Premium-Routen der Region, wo sie übernachten wollten. Das Auf- und Abgesteige in den Hängen und zwischen den Felsen war natürlich anstrengend, zumal wenn man Monate lang nichts in der Richtung gemacht hatte. Die beiden Touren steckten allen sicher in den Knochen, Jessica allemal.

Aber das war es nicht allein, warum es ein schweigsames Frühstück geworden war. Jessica waren die Bilder vom Vorabend nicht aus dem Kopf gegangen. Deshalb war sie der Pensionswirtin auch so lange eine Antwort schuldig geblieben. Dabei hatte Frau Ammann den Ortsunkundigen nur einen freundlichen Hinweis geben wollen. „Es kommt heuer wohl ein Wetter auf. Denken S´ daran, wenn S´ in die Berg ´naufgehen“, hatte sie angemerkt.

Es hatte alles gestern Abend damit angefangen, dass Fabian unbedingt zu einem Vortrag des Museumsvereins über alte bäuerliche Geräte wollte, den er in einem der im Flur ausgelegten Prospekte entdeckt hatte. So war er eben. Sich unbedingt mit Land und Leuten der Region beschäftigen, in die es ihn zufällig für ein paar Tage verschlug und die er danach nie mehr im Leben wiedersah. Das Ganze zog sich spät in den Abend, abschließend garniert mit einer historischen Tiroler Jause. Damit hatte er Vreni und Jessica zu ködern versucht. Beide hatten abgewinkt und neben ihrem gegen Null gehenden Interesse ihre müden Knochen als Entschuldigung vorgeschoben. Er war jedenfalls weg, die beiden Frauen waren dageblieben, hatten in der "Alpenblüte" was gegessen und sich danach auf ihre Zimmer verzogen – dachte Jessica.

Tatsächlich hatte alles damit angefangen, dass es am ersten Abend im einzigen Restaurant am Ort pickepacke voll gewesen war und die Bedienung sie an den Tisch mit den beiden Pforzheimern gesetzt hatte. Max und Oliver oder Olaf, Jessica wusste es nicht mehr so ganz genau. Auf jeden Fall auch sie beste Freunde, sportlich, angenehm, irgendwo Mitte vierzig und hier in der Gegend seit Jahren jedes Jahr wegen Bouldern und Bergwandern unterwegs.

Fabian und Jessica warteten später draußen lange auf Vreni, weil sie noch für kleine Mädchen musste. Jessica war es schließlich zu viel geworden, während Fabian weiter geduldig gewartet hätte, und sie war zurück, um nach Vreni zu schauen. Die hatte in fröhlicher Runde bei den beiden Männern gesessen, als sei das das Natürlichste der Welt. Die beiden hätten sie auf einen Absacker eingeladen, hatte sie draußen gesagt, und Jessica hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Bis gestern Abend, als sie, nachdem die Frauen sich auf ihre Zimmer verabschiedet hatten, noch mal raus gewollt hatte, um eine kurze Runde durchs Dorf zu machen.

An einem der Chalets, in denen sich die Pforzheimer eingebucht hatten, hatte sie die beiden gesehen. Vreni und Max oder Oliver, ihretwegen auch Olaf. Sie hatte sich vor Schreck in eine Einfahrt geduckt, als sie so plötzlich Zeugin des Vorfalls geworden war. Es war unnötig gewesen. Sie war weit genug weg gewesen und außerdem hatten die Berge bereits tiefdunkle Schatten auf das Tal und das Dorf geworfen, das sie umgaben. Aber sie war auch nicht so weit weg gewesen, um nicht genau zu erkennen, dass es Vreni gewesen war, die sich in inniger Umarmung mit dem Mann befunden hatte. Am Holzpfosten am Eingang hatte sie sich an ihn gepresst, beide Gesichter im Schatten der offenstehenden Tür zu einem verschmolzen.

Gleich darauf waren sie nach Innen verschwunden. In einem der Zimmer war Licht angegangen und Vorhänge waren zugezogen worden. Jessica war rasch zurück in ihre Unterkunft. Später hatte sie Schritte draußen auf dem Flur gehört, die sie als die von Vreni ausgemacht hatte. Noch später, viel später, die von Fabian. Sie hatte lange wach gelegen und Vreni am Morgen auf der Treppe vor dem Frühstück abgepasst, sie wortkarg, aber bestimmt am Ärmel nach draußen bugsiert.

„Du hast ihn gevögelt, diesen Typ. Gestern Abend. Ich hab´ dich gesehen. Hast du nicht alle Tassen im Schrank?“, hatte sie ihr unmittelbar vor den Latz geknallt. Dabei hatte sie sie zornig angefunkelt und ihre Stimme hatte wie ein ganzes Nest gereizter Klapperschlangen gezischt. Vreni hatte sie nur einen Moment verblüfft angeschaut, mit den Schultern gezuckt. „Ist halt passiert.“ Wieder ein Zucken mit den Schultern.
„Und Fabian? Spinnst du denn nur?“
„Das mit Fabian krieg ich schon klar, zerbrich dir mal darüber nicht den Kopf, Jess.“ Eine kurze Pause, dann: „Außerdem hat es nichts zu bedeuten, wirklich nicht.“ Dann hatte sie sie fast flehentlich angeschaut. „Vergiss das einfach, Jess. Das war dumm von mir. Ein dummer Ausrutscher. Du kennst mich doch.“ Wieder ein flehentlicher Augenaufschlag.

Ja, sie kannte sie. Sicher tat sie das. Es hatte in den vielen Jahren, die sie mit Fabian zusammen war, bereits einige Ausrutscher gegeben. Jessica hatte unnachgiebig den Kopf geschüttelt, um ihre Meinung zu dem Thema unmissverständlich klarzulegen. Dann hatte sie aus dem Augenwinkel einen Blick durch das Fenster in den Frühstücksraum geworfen und Fabian entdeckt, der sich gerade an ihrem Tisch hingesetzt hatte und von Frau Ammann mit einer Kaffeekanne bedacht worden war. Jessica hatte mit dem Kinn zur Scheibe gedeutet.

Vreni hatte den Wink verstanden und sie waren zurück ins Haus marschiert, hintereinander, und vor der Tür zum Frühstücksraum hatte Jessica erneut gezischt: „Darüber sprechen wir noch.“ Sie hatte von Vreni keine Antwort bekommen und es war das bereits erwähnte stumme Frühstück geworden.

Durch Vrenis Eskapade fühlte Jessica diesmal nicht nur die Welt der beiden bedroht. Tatsächlich hatte sie jedes Mal dieses Gefühl gehabt, wenn Vreni ihr einen Ausrutscher gebeichtet hatte, obwohl sie es irgendwann hätte besser wissen sollen. Die Welt der beiden war belastbarer als ihre eigene, deren Bedrohung sie gerade intensiv spürte. Auch deshalb war sie so stinkig auf Vreni. Immerhin hatte sie es nach langen Wochen mit Hilfe der beiden geschafft, den Scherbenhaufen, in den sich ihr Leben plötzlich verwandelt hatte, erfolgreich beiseite zu räumen. Ruhe und Ordnung in den Dingen, die tunlichst so bleiben sollten, wie sie waren. Das war es, was sie sich jetzt wünschte und brauchte.

Mit den Gedanken im Kopf stand sie eine Viertelstunde später mit geschultertem blauem Deuter-Rucksack vor der Haustür im Hof und warf einen prüfenden Blick hoch zu den Bergen. Von einem Wetter war glücklicherweise noch weit und breit nichts zu sehen. Das konnte sich in den Bergen aber rasch ändern, das wusste sie. Am Büfett hatte sie noch Brötchen, Käsescheibe, ging auch ohne Butter, und Banane abgegriffen. Obwohl ein Schild an der Wand die Gäste ermahnte zu respektieren, dass die Auslagen fürs Frühstücken und nicht als Reiseproviant gedacht wären. Egal, Frau Ammann hatte sowieso keine hohe Meinung von ihr.

Es dauerte nicht lange, bis auch Vreni und Fabian aus dem Haus kamen. Fabian hatte die speckige Baseballkappe auf dem Kopf, die jede seiner Wanderungen begleitete. Vreni trug eine Sonnenbrille, obwohl Tal und Hänge noch im dunstigen Nebel lagen, durch die es Sonnenstrahlen kaum durchschafften. Als Jessica zu ihr rübersah, verzog Vreni die Mundwinkel zu etwas, was Jessica unter der dunklen Brille als verschwörerisches Grinsen deutete. Jetzt lass es aber mal gut sein, sollte es wohl bedeuten. Jessica kniff den Mund zusammen und drehte den Kopf zur Seite.

Fabian sah angestrengt auf sein Handy. Dann streckte er seinen Zeigefinger am Dorfplatz vorbei in Richtung einiger blühender Hangwiesen. „Dort hinauf, Ladies!“, ließ er folgen und schritt voraus. Sie dackelten ihm hinterher. Vreni warf Jessica einen verstohlenen Blick zu, doch die tat so, als bemerkte sie es nicht. Sie folgten einem schmalen Weg an einem Bach entlang bis zu einer Stelle, wo ein Steig ziemlich steil nach oben führte. Vreni hielt an, drehte sich um und schaute hinunter ins Tal. Die anderen beiden folgten ihrem Beispiel. Grimbach lag immer noch in einer dichten Nebelglocke. Nur der Kirchturm streckte sich wie ein kantiger weißer Pfahl mit roter Spitze durch die Nebelfetzen in den Himmel, als wollte er mit den Bergspitzen konkurrieren, die sich ringsum auftürmten.

Hintereinander mühten sie sich an zackigen Felsen vorbei den Hang hoch. Nach den beiden vorangegangenen Tageswanderungen war das Gefühl von Muskelkater früh in den Beinen und Jessica versuchte, es zu ignorieren, indem sie beharrlich einen Schritt vor den anderen setzte. Sie konzentrierte sich auf den Pfad, der vor ihr lag, auch weil sie es musste. Der Steig verwandelte sich auf kurzen Abschnitten immer wieder in ein Geröllfeld, auf dem Trittsicherheit gefragt war, und wenig später gelangten sie an zwei kurze, mit Stahlseilen gesicherte Passagen, die einem die ganze Aufmerk-samkeit abverlangten.

Nach einer Wegkreuzung ging es weiter hoch über sattgrüne Wiesen. Oben auf dem Hang stand einsam ein Gebäude, das von fern wie ein Schuppen mit rostigem Blechdach aussah. Fabian las ihnen aus seiner App etwas darüber vor, während sie unten im Tal das ferne Heulen einer Sirene hörten. Fabian erklärte, warum die komische Almscheune so hieß, wie sie hieß, während seine Ausführung vom dezenten Läuten von Kirchenglocken untermalt wurde, die gedämpft aus dem Tal zu ihnen hochdrangen. Vreni sah Jessica verwundert an, sagte aber nichts. Jessica nahm kaum Notiz davon, weil sie sich in Gedanken an Fabian abarbeitete – dem fürsorglichen und manchmal bis zur Pedanterie spießigen Fabian.

„Bis ganz nach oben sind´s übrigens 1090 Höhenmeter“, hörte sie gerade seine Stimme im Hintergrund. Es klang so, als wäre es als Ansporn gedacht. Er hatte die Routen nicht nur auf seinem Handy. Hundertprozentig hatte er sie zuhause für alle Fälle auch ausgedruckt. Einem Handy konnte unterwegs der Saft ausgehen. Nicht dass seinem unterwegs der Saft ausging. Er hatte immer gleich zwei Powerbanks dabei, damit er auch im tiefsten Wald aufladen konnte. Fabian gehörte definitiv zu der Sorte Mensch, die für alles vorsorgte und vorplante. Nur seine eigene Ehe hatte er anscheinend chronisch schlecht im Blick. Jessica seufzte innerlich bei dem Gedanken. Er gehörte augenblicklich sicher auch zu den zehn Wanderern in Österreich mit dem reichhaltigsten Erste-Hilfe-Beutel im Rucksack. Wahrscheinlich hatte er sogar Salben gegen Steinbockbisse und Gämsentritte dabei. Jessica musste bei dem Gedanken grinsen.

„Ich muss mal“, riss Vrenis Stimme sie aus ihren Gedanken. Vreni nahm den Rucksack vom Rücken, stellte ihn neben ihren Füßen ab und schritt suchend nach rechts, um dann an etlichen Felsblöcken vorbei nach oben zu klettern. „Ich glaube, da vorn ist Edelweiß“, rief sie den beiden grinsend zu.
„Das würde mich wundern“, meinte Fabian sachlich. Nach wenigen Augenblicken tauchte Vreni wieder auf. Sie zuckte bedauernd mit den Schultern und Fabian warf Jessica einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Schaut mal da drüben!“, rief Vreni ihnen plötzlich überrascht zu. Ihre ausgestreckte Hand deutete auf eine Stelle hinter ihnen. Beide fuhren wie auf Kommando herum und folgten dem Fingerzeig. Trotz Mützenschirm legte Fabian die Hand als Sonnenschutz an die Stirn. Sie blickten auf ein dunkles Fichtenwäldchen, das sich in einem seitlichen Hang knapp oberhalb von ihnen befand.

„Da hängt was Weißes in den Bäumen“, erkannte Jessica.
„Ein Flieger, das ist ein Flugzeug.“ Fabian staunte mit offenem Mund. „Muss abgeschmiert und in den Baumwipfeln hängen geblieben sein. Wahrscheinlich Sportflieger.“
„Über den Bäumen ist ´ne kleine Rauchfahne.“ Jessica kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Fabian nickte.
„Wir müssen die Rettung benachrichtigen“, brachte Jessica aufgeregt hervor. Gleich darauf fingerte sie am Reißverschluss ihrer Fleece-Jacke und zog ihr Handy hervor. „Kein Empfang“, kommentierte sie enttäuscht, während sie ungehalten auf das Display stierte.
„Ich auch nicht“, bemerkte Fabian neben ihr. Auch er starrte sekundenlang auf sein Handy, bevor er aufschaute und seinen Blick wieder auf das weiße Objekt richtete, das schief zwischen den fernen Fichtenstämmen zu kleben schien. Mit dem Rücken zum Tal standen sie einige Sekunden reglos und beobachteten angestrengt.
„Wie ist dein Empfang?“, rief er Vreni über die Schulter zu. Er erhielt keine Antwort. Er drehte sich um und erstarrte, stand wie versteinert da.
Neben ihm stöhnte Jessica auf, die sich ebenfalls nach Vreni umgedreht hatte.
Fabian bekam es kaum mit, denn er brauchte seine gesamte Wahrnehmung, um zu kapieren, was er da sah. Er sah Wasser, nichts als Wasser – mächtig viel Wasser, überall, soweit das Auge reichte.

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