Der Hurenwagen

Unter dem Leitspruch "Deus vult" (Gott will es) versammelten sich zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert in sieben Kreuzzügen Tausende christlicher Ritter und Soldaten, um die "heilige" Stadt Jerusalem von den aus christlicher Sicht ungläubigen Muslimen zu befreien. Zu meiner Geschichte vom "Hurenwagen" inspirierte mich ein ganz besonderer Kreuzzug, der, weil er von vornherein als wenig aussichtsreich und auch von den Zeitgenossen als hochgradig dubios erachtet wurde, gar nicht zur offiziellen Kreuzzughistorie gezählt wird.

Gemeint ist der sogenannte Kinderkreuzzug von 1212, der sich, von fanatischen Kreuzpredigern angefacht, in Paris und Köln formierte und einen Strom ebenso fanatisierter Kinder und auch Erwachsener durch das ganze damalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation bis über die Alpen nach Italien ziehen ließ. Das Ganze endete für viele Beteiligte in einem Fiasko, Tod, Vergewaltigung und Verschleppung in orientalische Harems inbegriffen.

Manfred Schumacher, Der Hurenwagen, erschienen 2021 im vss-verlag, Frankfurt, ISBN 978-9-403631-23-3, 363 Seiten, 15,95 Euro









Das passiert: Gunde, die Hauptfigur des Romans, ist Heilerin, versiert in den Lehren und Rezepturen der Kräutermedizin in der Tradition einer Hildegard von Bingen, deren Zeitgenossin sie beinahe ist. Plötzlich in einen Streit um ein ominöses Formelbuch verwickelt, sucht sie Schutz im Kinderkreuzzug des Jahres 1212. Sie gerät in neue Verwicklungen und Intrigen, erfährt aber auch die tatkräftige Hilfe neuer ungewöhnlicher Freunde. Sie bleibt im Besitz des Formelbuchs, dessen Rezepturen moderne Ansätze der Chemotherapie vorwegnehmen, und verwirklicht ihre Vision eines der ersten „modernen“ Hospitäler – in Form des Hurenwagens.


Leseprobe

("Der Hurenwagen", Seiten 7 - 25)


PROLOG

In der Mitte des Raums stand ein etwas zu niedrig geratener, grob gezimmerter Tisch. Darauf lag eine Matratze aus Stroh, von dem Halme an einigen Stellen durch die Leinennähte hervorschauten. Die Frau im mittleren Alter setzte sich mühsam darauf. Sie hatte sichtbare Schmerzen. Sie verzog, als sie sich setzte, das Gesicht zu einer gequälten Miene, und ebenso, als sie zuerst das eine und dann das andere Bein auf die Unterlage hob. Sie legte sich stöhnend auf den Rücken und wartete gespannt. Die andere Frau, deutlich jünger als sie, trat hinzu und streifte ihr den langen Rock bis zum Bauchnabel hoch. Die freiliegende Scham hob sich im schummrigen Licht der Kammer als dunkles Dreieck von der hellen Haut der Liegenden an Beinen und Hüften ab.
„Ich werde dich jetzt untersuchen. Hab keine Angst“, sagte die Frau.
„Ja, Herrin“, entgegnete die Liegende. Ihr Gesicht war hohlwangig und strahlte eine Müdigkeit aus, die mit ihrem Leiden zu tun haben mochte.
„Ich bin keine Herrin, nur eine Heilerin. Eine einfache Heilerin“, entgegnete die Stehende lächelnd. Sie trug über ihrem Rock eine weit fallende Leinenschürze. Ihr langes, wallendes Haar, das die Farbe frischer Kastanien hatte, trug sie verknotet unter einem hellen Tuch, das ihr tief in der Stirn saß.
„Ich muss mit der Hand in dich hinein. Es tut bisschen weh. Außerdem sind meine Hände etwas kalt“, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln, das eine Entschuldigung andeuten sollte. Sie tastete zuerst sorgsam den Bauch der Kranken an mehreren Stellen ab. Sie bat sie, sich auf die Seite zu drehen, dann auf den Bauch. Sie drückte konzentriert am Rücken und am Becken. Dann musste sich die Kranke wieder auf den Rücken legen. Sorgsam führte die Kastanienrote ihre Finger in die Scheide der Frau ein. Die Liegende stöhnte und biss auf die Zähne. Nach vielen Herzschlägen richtete die Heilerin sich wieder auf und suchte den Blick der Liegenden.
„Dein Unterleib hat sich gesenkt. Deshalb verlierst du Urin, wenn du dich anstrengst, und drückt ständig deine Blase. Daher kommen auch die Schmerzen beim Wasserlassen. Auch deine Entzündung an der Scheide und das Geschwür hier.“ Sie deutete auf eine Stelle zwischen dunklem Haar. Die Kranke reckte, mit ihrem Blick dem Finger der Heilerin folgend, den Kopf instinktiv nach vorn. Wegen der hochgeschlagenen Rockschöße konnte sie aber nichts sehen. Sie legte den Kopf zurück aufs Laken und sah die Heilerin abwartend an.
„Deine schweren Rückenschmerzen und Schmerzen beim Arbeiten kommen auch daher“, führte die weiter aus. „Ich werde dir einen halben Granatapfel einsetzen und damit deinen Beckenboden heben“, erklärte die Kastanienrote weiter.
„Einen Granatapfel?“ Die Augen der Kranken weiteten sich und sie schaute die Heilerin erstaunt und verunsichert an. Sie kannte Granatäpfel nicht, hatte nur davon gehört. Sie wusste aber, dass Granatäpfel irgendwelche Früchte waren, und eine solche sollte jetzt in ihr Geschlecht hinein.
„Nur keine Angst“, wehrte die Heilerin beruhigend ab. „Ich hab das schon mehrmals gemacht und es hilft wirklich. Schon mein Lehrmeister hat es praktiziert, der es wiederum von seinem Lehrer, einem arabischen Chirurgus, wusste.“
Das schien die Kranke ein wenig zu beruhigen. Sie nickte als Zeichen ihrer Zustimmung. Ihre Augen schauten aber weiter gespannt und folgten argwöhnisch den Bewegungen der Heilerin. Die Kastanienrote nahm, ohne sich weiter um die Kranke zu kümmern, von einem Regal ein Messer und ging damit zur Feuerstelle. Sie hielt die Klinge eine Zeitlang über das Feuer, ging zu einem anderen Regal und holte eine rote Frucht, ähnlich einem Apfel, aus einem irdenen Topf. Sie teilte sie in zwei Hälften. Eine Hälfte bearbeitete sie mit dem Messer. Dann kam sie zum Lager der Kranken zurück.
„Leider wird es jetzt richtig weh tun“, bereitete sie die Liegende vor. Sie drückte ihr vorsichtig ein Beißholz zwischen die Zähne. „Damit du dir nicht in die Zunge beißt“, sagte sie erklärend. Die Kranke nickte angestrengt. Ihr Blick war voller ängstlicher Vorahnung. Die Heilerin führte ihre Finger mit der halben Frucht ein. Nach einer für die Patientin quälend langen Zeit war es endlich geschafft. Die Frau auf dem Lager hatte Schweißtropfen auf der Stirn, die ihr die Heilerin mit einem Tuch behutsam abtupfte.
„Du warst sehr tapfer“, sagte sie anerkennend und strich der Frau mitfühlend über die Stirn. Sie half ihrer Patientin, sich aufzurichten. Vorsichtig und abwartend kam sie hoch, saß zunächst für wenige Momente auf der Kante und setzte dann ihre nackten Füße auf den Boden auf, um sich ganz aufzurichten. Sie horchte nach innen und wartete auf den Schmerz. Dann leuchteten ihre Augen und sie sagte der Kastanienroten freudestrahlend, dass sie sich besser fühlte. Überschwänglich, wenn auch in einfachen, bescheidenen und wenig geschmeidigen Worten dankte sie ihrer Wohltäterin und ein Gefühl von Erleichterung spiegelte sich in ihrem Gesicht.
„Ach ja, da ist noch was“, sagte die Heilerin. Schon war sie an einem Regal, griff sich einen Krug und entfernte den Holzpfropfen, der ihn versiegelte. Sie entnahm ihm mit einer kleinen Küchenschaufel, ebenfalls aus Holz, eine Handvoll Kräuter. Die Kräuter wanderten in ein kleines Leinensäcken, um das sie einen Hanffaden als Verschluss band. Im nächsten Augenblick war sie wieder bei der Frau, der sie das Säckchen in die Hand drückte. „Das ist eine Mischung aus Raute und ein paar anderen Kräutern.“ Sie sah die Frau vielsagend und ein wenig verschwörerisch an. „Koch die Kräuter und gib den Sud deinem Mann zu trinken. Misch ihn am besten in eine Suppe oder Grütze. Das nimmt ihm die Manneskraft und er lässt dich die nächste Zeit in Ruhe.“
Sie nickte ihr aufmunternd zu. Die Frau stutzte zuerst. Dann begriff sie und lächelte verschämt - aber auch dankbar. Nach einer kurzen Verlegenheitspause verfinsterte sich plötzlich ihre Miene. „Ich – ich kann Euch leider keine Pfennige geben“, stotterte sie, als ihr dieser Teil der üblichen Gepflogenheit einfiel. Ihr Blick wanderte verlegen zu Boden, suchte aber rasch wieder die Augen der Heilerin. „Ich bringe Euch die nächsten Tage frische Eier, ganz bestimmt“, beeilte sie sich zu sagen. „Wenn unsere Hennen gut legen“, fügte sie mit einem kurzen Hochziehen der Schultern und hilflosen Lächeln einschränkend hinzu.
Die Heilerin legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Alles gut, Hannah, alles gut. – Mach dir keine Gedanken.“
„Pfennige haben wir momentan nicht, wisst Ihr.“ Die als Hannah Angesprochene ließ sich nicht beruhigen. „Mein Mann – er -.“ Sie stockte und machte eine hilflose Bewegung.
Die Kastanienrote fasste Hannah an beiden Schultern, um sie zu beruhigen. Sie kannte Hannahs Mann und wusste um ihre Sorge, den Kindern das Notwendigste geben zu können. In dem Moment klopfte es aufgeregt an der Tür. Die Heilerin entschuldigte sich mit einem erklärenden Blick bei ihrer Patientin und ging zur Tür. Sie hatte den Riegel vorgeschoben, wie sie es immer bei Behandlungen tat, und öffnete. In der Türöffnung stand ein Mädchen, zehn bis zwölf.
„Was willst du?“, fragte sie.
„Du musst kommen, Heilerin, schnell!“
„Wer bist du, Kleine? Was gibt es?“
„Meine Mutter schickt mich“, antwortete das Mädchen hastig. „Sie arbeitet für die Familiaren im Laienhof am Roten Hang.“
Die Heilerin schaute das Mädchen fragend an, das sofort kapierte. „Meister Hildebrandus. Es geht ihm schlecht.“ Die Heilerin erschrak und wechselte vom einen auf den anderen Moment die Farbe. Hastig wandte sie sich ihrer Patientin zu. „Hannah, ich muss leider rasch fort, aber wir sind ja auch erst mal fertig. Schau bitte nach spätestens zwölf Nächten wieder vorbei.“ Hannah nickte eifrig. Die Heilerin begleitete sie zur Tür und verabschiedete sie.
„Komm, lass uns gehen“, sagte sie zu dem Mädchen, das geduldig und stumm im Türeingang wartete. Sie war schon auf der Schwelle, als ihr einfiel, die für sie wichtige Frage zu stellen. „Was fehlt ihm?“
„Er hat den Schlagfuß, sagt die Mutter“, entgegnete das Mädchen. Sie schaute neugierig zu der Kastanienroten hoch, weil sie auf ihre Reaktion gespannt zu sein schien. Die zeigte so gut wie keine. Statt einer sichtbaren Regung packte sie eilig zwei Tiegel in einen Korb. Dann gingen sie.
„Und du bist?“
„Agneta.“
„Gut, Agneta, dann lass uns schnell gehen!“
Sie eilten ein Stück die Mosel entlang, um irgendwann eine Anhöhe zu erklimmen. Nach einer Weile gelangten sie auf eine Lichtung. Von dort ging es östlich am nicht zu übersehenden Getreidespeicher und an der Pauluskirche vorbei. Nach kurzem Weg sahen sie in einiger Entfernung die Dachspitzen des Irminenklosters. Dann waren sie am Laienhof angelangt. Hildebrandus war in einem schlechten Zustand. Er war schwach. Das rechte Bein und die Hand waren gelähmt. Er konnte nur mit Mühe sprechen, die Wörter kamen undeutlich heraus. Trotzdem erkannte er die Frau, die in die Kammer eingetreten war, sofort.
„Gunde – du hast es – geschafft“, artikulierte er lallend. „Nicht – viel – Zeit“, ergänzte er vielsagend. Die Anstrengung, Lippen und Zunge zu bewegen, um mit widerspenstigem Mund Wörter zu formen, war ihm ins Gesicht geschrieben. Sie nickte. Tränen kullerten ihre Wangen runter und sie wischte sie rasch weg.
„Wie - lange - her?“, kam es schleppend aus seinem Mund.
Sie nickte erneut. „Jahre“, antwortet sie mit einem eher schmerzlichen Lächeln.
Diesmal nickte er und lächelte, während ihn die Erinnerung einholte. „Jahre“, sagte er gedehnt. Sein Kopf hob und senkte sich zur Bestätigung. Zwei Kleriker aus dem nahen Kloster waren zugegen, um ihm in seiner Sterbestunde geistlichen Beistand zu geben. Agnetas Mutter und eine andere Frau saßen stumm in einer Ecke.
Einer der Mönche stimmte leise die Bußpsalmen an. „Herr! Strafe mich nicht in Deinem Grimme, und züchtige mich nicht in Deinem Zorn. Erbarme Dich meiner, o Herr, denn ich bin schwach. Heile mich, o Herr, denn meine Gebeine sind vor großem Schmerz ganz zerschlagen“, begann er. Sein unterdrückter Singsang, mit einer für einen Mann hohen Fistelstimme vorgetragen, brach sich an den lehmverkleideten Wänden und machte die Situation im Raum noch bedrückender. Ein weiterer anwesender Mönch wollte den Kranken noch nicht kampflos allein der Fürbitte seines Glaubensbruders überlassen. Er hantierte an einem Beutel und packte Aderlassbinde und –eisen aus. Gunde versperrte ihm den Weg, als er an das Lager von Hildebrandus herantreten wollte.
„Wer bist du Frau, dich mir in den Weg zu stellen?“, fuhr er sie entrüstet und zugleich erstaunt an.
Hildebrandus signalisierte ihm mit seiner gesunden Hand, nahe an sein Gesicht zu kommen. „Kein - Aderlass. Hör auf - sie. - Sie weiß -.“ Seine Worte brachen ab. Erschöpft sank er auf sein Lager zurück.
„Ihr hörtet es. Er will es nicht“, fauchte Gunde den Mönch an.
„Er ist nicht mehr bei Sinnen. Ich muss entscheiden, was für ihn richtig ist.“ Er wollte, ohne sich weiter um Gunde zu kümmern, die Binde am Arm von Hildebrandus anbringen. Doch sie schlug ihm die Hand weg, schob ihn fort und stellte sich schützend vor Hildebrandus. „Er sagte doch – kein Aderlass!“, fauchte sie ihn an.
„Was wagst du dich – Weib!“, keifte der Mönch entrüstet und trat einen Schritt auf sie zu.
Flink hatte sie plötzlich einen mit einem Holzpfropfen verschlossenen Tigel zur Hand, den sie zuvor aus ihrem Korb gefischt hatte. Sie zog den Pfropfen heraus. „Geht, geht sofort – oder -! Ich schwöre es Euch. Ich schütte Euch dies hier über.“ Sie hielt ihm den Tigel drohend unter die Nase. „Es zerfrisst alles, was es berührt. Eure Wangen und Nase zerschmelzen im Nu bis auf die Knochen und Ihr lauft für den Rest Eures Lebens mit einem hässlichen Totenschädel herum. Wollt Ihr das?“ Ihre Augen funkelten ihn so böse an, dass er erschrocken zurückwich.
„Was weiß denn eine Kräuterfrau von Heilkunst. Er leidet unter überflüssigen und verdorbenen Säften. Sein Blut ist giftig, und dagegen hilft nun mal Aderlass und tüchtiges Schwitzen.“ Er starrte sie mit großen, forschenden Augen an. „Außerdem ist der Zeitpunkt günstig, denn gerade erst haben die Tage des abnehmenden Monds begonnen.“
„Ich bin Heilerin und keine Kräuterfrau“, entgegnet Gunde. „Und ich weiß mehr als ein Tonsor, der sonst im Kloster den Mönchen Tonsuren und Bärte rasiert. - Ihr geht jetzt besser!“ Sie deutete auf die Tür. „Nicht seine Säfte sind krank. Sein Kopf ist krank. Da hilft weder Schwitzen noch Aderlass.“ Erneut wies sie zur Tür. Die beiden anderen Mönche schauten dem Ganzen erschrocken, aber unbeteiligt zu. Der Tonsor zog widerwillig ab und warf ihr, bevor er die Tür von außen schloss, einen letzten giftigen Blick zu.
Gunde wollte den Tiegel zurück in ihren Korb packen und schwenkte herum in Richtung der Mönche. Die wichen erschrocken zurück, der wieder aufgenommene Bußpsalmgesang brach jäh ab. „Keine Angst!“, grinste Gunde. „Da ist nur in Öl getränkte Raute und Petersilie drin.“ Sie packte den Tiegel weg. „Ich dachte, die Gicht hätte Euch vielleicht befallen.“ Sie sagte es in Richtung von Hildebrandus. „Dann hätte ich Euch einen guten Kräuterverband daraus gemacht. Leider ist es nicht so einfach.“ Sie blickte ihn mit trauriger Miene an. Er lächelte nur schwach. Es folgte eine kurze Pause. Dann machten beide Mönche mit den Bußpsalmen weiter. Hildebrandus winkte Gunde zu sich heran. Er drückte ihr dankbar die Hand.
„Das Fach – im Boden“, begann er keuchend. „Das – da-s Brett – unter der K-Kerze. – Lose!“ Er bedeutete ihr mit einer Bewegung der Hand, dort hin zu gehen, um nachzuschauen. Sie schob den Eisenständer mit der Kerze zur Seite, bückte sich und fasste das Brett an. Tatsächlich, es war lose und ließ sich leicht anheben. Erstaunt nahm sie einen in ein Ledertuch gehüllten Gegenstand an sich und kam damit an Hildebrandus´ Lager zurück. Sie zeigte ihm ihren Fund. Er drehte leicht die Hand. „Auf -“, formten seine Lippen. Sie faltete das Tuch zur Seite.
„Euer Buch – Euer Heilbuch!“, sagte sie erstaunt.
Er nickte. „Für – dich.“
„Aber Meister Hildebrandus! – Ich bin doch nur – ich war doch nur -“.
Er unterbrach sie, indem er seine gesunde Hand mit aller verbliebenen Kraft auf ihre Hand legte, die das Buch hielt. „Für – dich!“, wiederholte er und seine Augen suchten angestrengt ihren Blick. Bevor sie zu einer weiteren Entgegnung kam, nickte er bestätigend. Einmal und dann ein weiteres Mal. Er versuchte, sich weiter aufzurichten. Sie stützte seinen Rücken und er drehte den Kopf in Richtung der Mönche, winkte sie schwach mit der Hand zu sich. „Ihr sagt – es dem - Prior. Falls der – Tonsor -. Dass sie meinen – Willen -.“ Er schaute beide fragend an. „Meinen – Willen“, wiederholte er.
Sie verstanden und nickten. Das Sprechen hatte ihn angestrengt und er sank erschöpft zurück. Eine geraume Zeit lag er stumm und ausdruckslos da. Die Frauen saßen weiter stumm in der Ecke. Die Mönche waren beim dritten Bußpsalm angelangt, als Hildebrandus sich wieder bemerkbar machte. „Tragt mich – Eins- Ei – n-!“ Seine Worte waren kaum noch verständlich. Er machte eine kurze Pause, um erneut zu beginnen.
„Er möchte zur Einsiedelei“, vollendete Gunde für ihn. Ihr war wieder eingefallen, wie sehr er früher den Platz unter dem Ahornspalier neben der wuchtigen Klause geliebt hatte.
„Aber in seinem Zustand? - An der Einsiedelei ist doch immer ein zugiger Wind“, warf Agnetas Mutter zaghaft ein.
„Draußen scheint die Sonne und die Tage sind jetzt schon sehr warm“, entkräftete Gunde ihren Einwand. Es macht wohl sowieso keinen Unterschied mehr, dachte sie, und es machte sie erneut traurig. „Außerdem legen wir eine Decke über ihn“, sagte sie laut. „Also, tut, was er sich wünscht! Holt Männer, die ihn dort hin tragen!“
Wenig später bewegte sich eine kleine Schar einen gewundenen Pfad hoch zur auf einem kleinen Plateau gelegenen Einsiedelei. Vorn marschierten vier Männer, die Hildebrandus samt Lager trugen. Dann folgten die beiden Mönche, der eine singend, während der andere den Sterbenden hin und wieder mit Weihwasser besprengte. Dahinter Gunde und mehrere Frauen und Männer, alle Bedienstete oder Familiare des Laienhofs. Sie erreichten, dem Gefolge einer kleinen Prozession gleich, das Plateau und betteten Hildebrandus an seinem Lieblingsplatz auf der Wiese vor der Klause. Einige derzeitige Bewohner der Klause gesellten sich zu ihnen. Alle umringten das Lager des alten Mannes. Sein Gesicht wirkte jetzt eingefallen und so bleich wie sein struppiger, von einem früheren Blatternbefall gezeichneter Bart und sein für sein hohes Alter noch immer volles, schlohweißes Haar. Gunde saß neben ihm, weil er es so wollte, und hielt seine Hand.
So verging die Zeit bis zum Sonnenuntergang, den Hildebrandus noch mitbekam. Der Schein der versinkenden Sonne lag satt und goldgelb auf dem Weinberg vor ihnen; ebenso auf der sich daran anschließenden Bruchkante aus rotem Fels und tief unten auf dem trüben dunklen Wasser der Mosel. Hildebrandus lächelte Gunde schwach an. Danach verfiel er in einen Schlummer. Später errichtete man ein Feuer, um den Sterbenden und die Umstehenden zu wärmen. Gunde ließ mehr Decken bringen. Irgendwann leuchtete es hell in der Dunkelheit und Funken flogen ab und an gen Himmel. Zu dem Zeitpunkt waren nur noch Gunde und die beiden Mönche bei ihm. Hildebrandus war längst nicht mehr ansprechbar und dämmerte vor sich hin. Seine Brust hob und senkte sich nur noch schwach. Dann auch das nicht mehr. Einer der Mönche sprach ein Gebet. Gunde weinte leise in sich hinein. Männer trugen den Toten zurück zum Laienhof und Gunde begleitete sie.
Gunde nahm den Weg zurück zu Hildebrandus´ Kammer, um ihren Korb zu holen. Sie ließ den Eindruck der leeren Kammer kurz auf sich wirken, schloss leise die Tür und suchte den Weg zur kleinen Kapelle. Zwei brennende Kerzen vor dem Eingang wiesen ihr den Weg. Sie trat ein und schloss hinter sich die schwere Tür. Ihre Schritte hallten dumpf auf den Steinplatten, bis sie das Lager des Toten erreichte. Die Frauen hatten den Leichnam bereits ordentlich aufgebahrt. Sie hatten ein frisches Leinentuch bis zum Kopf über ihn gedeckt und ihm ein kleines Holzkreuz auf die Brust gelegt. Auch standen zwei brennende Kerzen in Metallständern, wie dem aus Hildebrandus´ Raum, jetzt links und rechts am Kopfende. Plötzlich gab es an der Eingangstür ein Geräusch. Gunde wandte sich um und sah Agneta im Türrahmen.
„Du noch auf?“, fragte sie das Mädchen erstaunt. „Ist es nicht schon viel zu spät für dich? Du solltest schon schlafen.“
Das – das geht gerade noch nicht“, druckste die Kleine herum.
Gunde sah sie erstaunt an. „Und warum?“
„Weil der Johann gerade seinen Pimpel in die Mutter steckt. Dann grunzt und schnaubt er immer, dass das Vieh im Stall ganz unruhig wird.“
„Sagten die beiden dir das so“, wollte Gunde verblüfft wissen.
„Nicht gerade so.“ Agneta trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Gunde wartete geduldig auf die weitere Ausführung. „Na, ich hörte mal, dass der Johann das sagte, als er mit den anderen Knechten viel von dem richtigen Starkbier trank“, fasste sich die Kleine ein Herz. „Da sagte er, er würde jetzt zur Mutter gehen und das machen, was ich – gerade – sagte.“
„So, so, sagte er das?“
„Ja, ganz genau so. – Mir sagen sie immer, sie haben was Wichtiges zu bereden und ich soll erst wieder reinkommen, wenn vor der Tür die Kerze brennt.“
„Aha“, sagte Gunde lächelnd. Auch Agneta hatte ihre Scheu verloren und grinste.
„Meine kleinen Geschwister dürfen bei ihnen drin bleiben, weil sie noch nichts mitbekommen, sagt Mutter. Sie zieht dann ein Laken vor das Bett.“
„Was ist denn mit deinem Vater?“, fragte Gunde, einem Impuls gehorchend.
„Der ist schon lange tot.“
„Das tut mir leid“, meinte Gunde spontan. Das Mädchen zog die Achseln hoch und verzog kurz das Gesicht zu einer schmerzlichen Geste des Bedauerns. Im nächsten Moment war sie wieder drüber hinweg. „Ich kannte ihn ja kaum.“
Gunde nickte und sah, als sie die Kleine beobachtete, dass das Mädchen noch etwas anderes auf dem Herzen hatte. „Ist da noch was?“
„Hm, na ja, mich tät - interessieren, warum Herr Hildebrandus dir das Buch gegeben hat.“
Gunde stutzte einen Moment. „Deine Mutter erzählte es dir?“, fragte sie zurück. Das Mädchen nickte und schaute gespannt zu ihr herüber.
„Ich – ich weiß es nicht, wenn ich ehrlich sein soll.“
„Aber er kannte dich vorher?“
„Ja, er kannte mich. Ich war seine Schülerin, etliche Jahre. - Das ist aber Jahre her.“
„War er damals ein Lehrer?“
„Ja er war ein Lehrer und obendrein ein berühmter Medicus und Heiler.“ Sie legte für einen Moment die Hand auf das Kreuz und schaute lange in das bleiche Antlitz des Toten, dem die Mägde ein Leinentuch um Kopf und Kinn gebunden hatten.
„Er mochte dich wohl sehr, weil er dir sein Buch gab“, meldete sich die Kleine wieder.
„Ja, wahrscheinlich“, sagte Gunde und kämpfte dabei gegen den plötzlichen Kloß im Hals an. Es entstand eine kurze Pause, in der Agneta plötzlich auf dem Absatz kehrt machte, zur Tür ging und am Pfosten vorbei in den Gang spähte. Dann tauchte ihr Kopf wieder auf. Sie hob mit einem Grinsen im Gesicht aufmerksamkeitssteigernd einen Finger hoch. „Die Kerze brennt wieder“, sagte sie verschwörerisch.
„Aha“, erwiderte Gunde schmunzelnd.
„Dann kann ich ja jetzt gehen“, erklärte die Kleine. Sie räkelte sich am Türpfosten und wippte in plötzlicher Ungeduld mit ihrem Fuß auf und ab. „Leb wohl!“, rief sie Gunde zu und war im nächsten Moment verschwunden. Gunde eilte zur Tür. „Leb du auch wohl“, rief sie ihr nach. Die Kleine hörte es, wendete den Kopf und winkte kurz zurück.
Gunde verabschiedete sich von dem Toten, indem sie ihm zum Abschied die über der Brust gefalteten Hände drückte und ihn kurz auf die Schläfe küsste. „Danke – danke für alles, lieber Meister“, sagte sie leise. Sie wendete den Blick, der noch einen Moment liebevoll und schmerzlich zugleich auf ihm ruhte, von ihm ab, machte kehrt und griff sich den Korb zu ihren Füßen.
Plötzlich hörte sie draußen auf den Steinfliesen Schritte, die sich rasch näherten, und das Tok-tok eines Stocks. Gespannt schaut sie zur Tür, die sich in dem Moment auch schon öffnete. Die Gestalt eines Mönchs stand in der Tür. In der Hand trug er ein Talglicht. Es warf ein schummriges Licht auf sein Habit und seine Kapuze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Er hielt kurz inne und warf einen langen Blick in den Raum, um die Szene, die Frau neben dem aufgebahrten Toten, auf sich wirken zu lassen. Dann kam er gemessenen Schritts näher. Als er näherkam, gab das Licht mehr Details von ihm preis. Der Mann war mittleren Alters und hatte ein schmales Gesicht mit flacher Stirn, über der eine büschelige Strähne dunklen Haars unter der Kapuze hervorschaute. Seine Augen lagen eine Spur zu eng zusammen, was ihnen im flackernden Licht der Kerze etwas Unheimliches gab. Seine Nase war lang und gebogen, wie der Schnabel eines Vogels. Der schmale Kopf ging in einen ebenso schmalen, dünnen Hals über, dessen Adamsapfel halb von einem weißen Halstuch verdeckt wurde. Es war besonders fein gewirkt und glänzte auffällig im Kerzenlicht. Auf dem Tuch war eine kleine silberne Taube kunstvoll eingestickt, die die Flügel ausbreitete.
Gundes Blick blieb wie magnetisiert an dem Tuch haften. Sie hatte solch ein Tuch schon mal gesehen und konnte es und seinen Träger sofort einordnen, obwohl es bereits viele Jahre her war. Dem Neuankömmling war ihr Blick nicht verborgen geblieben. Er fixierte Gunde mit kleinen Augen.
„Du kennst die Halsbinde?“, fragte er wissend und deutete mit dem Zeigefinger seiner freien Hand auf das Tuch. Seinen Wanderstab hielt er in der blassen schmalen Faust neben sich auf den Boden gestützt.
Gunde nickte. „Was wollt Ihr hier?“, fragte sie mit einer nicht zu überhörenden Ablehnung in der Stimme.
„Einem aus dem Leben abberufenen Mitbruder die letzte Ehre erweisen und für seine unsterbliche Seele beten“, sagte der Mönch eisig. „Leider wurden wir zu spät unterrichtet, dass er sich im Sterben befand. - Wir wären sonst zweifellos früher gekommen.“ Gunde hörte das ehrliche Bedauern in seiner Stimme. Seine Augen aber waren jetzt kleine Schlitze. Lauernd beugte er sich nach vorn und schielte halb um sie herum auf ihren Korb. Gunde tat so, als bemerkte sie es nicht.
„Er schwor eurem Orden vom Heiligen Geist schon vor undenklicher Zeit ab“, sagte sie stattdessen. „Einmal Bruder, immer Bruder“, meinte der Mönch und schickte ein gummihaftes Lächeln hinterher, das wie eine Maske war. Rasch wurde sein Gesicht wieder ernst und mit zwei stockenden Schritten war er am Kopfende von Hildebrandus´ Totenlager. Er lehnte seinen Stab vorsichtig gegen die Bahre, faltete die Hände und betete: „Domine, ne in furore tuo arguas me: neque in ira tua corripias me. …“ Seine dünne Stimme hob und senkte sich und die Worte brachen sich dumpf an dem dunklen Gemäuer. Als er endete, bekreuzigte er sich und Gunde tat es ihm nach. Er schwieg lange, während er das Gesicht des Toten im Blick hatte. Gunde wartete gespannt.
Dann endlich löste sich der Mönch von dem Toten und wandte sich wieder ihr zu. „Uns wurde zugetragen, dass er dir vor seinem Tod sein Formelbuch gab“, sagte er fast beiläufig, obwohl ihn sein stechender Blick verriet. Natürlich, daher wehte also der Wind! Sie wollten sein Buch. Deshalb vorhin der gierige Blick zum Korb. Gunde nickte und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Seine kleinen Augen stachen jetzt im Flackerlicht unter der Kapuze wie Speere hervor.
„Es gehört uns, dem Orden. Es gehört in unseren Besitz“, presste er mit unterdrückter Wut hervor.
„Es gehörte ihm und nur ihm. Er konnte damit machen, was er wollte. - Das geht euren Orden überhaupt nichts an“, schleuderte sie ihm zurück. Auch ihre Stimme war jetzt etwas lauter geworden, obwohl sie sich in Anbetracht des Ortes und der Situation um Mäßigung bemühte.
„Nach seinem Ableben gehört es uns und nicht dir“, zischte er aus Respekt vor dem Toten, statt sie, was er sichtbar liebend gern getan hätte, in unbeherrschter Wut anzubrüllen. „Wer bist du denn schon? Wohl doch eine dieser Salbenmischerinnen und Kräuterlieseln, die heute in Mode gekommen sind.“ Er sah sie feindselig an. „Was will denn jemand wie du damit? Geradezu eine Sünde wär es, es dir zu überlassen.“
Er sprang plötzlich nach vorn und wollte sich an ihrem Korb zu schaffen machen. Doch rasch stellte Gunde ihm ein Bein, sodass er hinstürzte. Als er sich verdutzt aufrichtete, robbte er auf seinem Hintern mit zwei, drei raschen Hopsern zur Bahre und bekam seinen Stock zu fassen. Damit wollte er, immer noch auf dem Boden sitzend, nach ihr schlagen. Doch sie kam ihm zuvor. Sie trat ihn rasch und heftig gegen die Brust, dass er mehr vor Verblüffung als vor Schmerz aufstöhnte und gleich darauf nach hinten purzelte. Der Stab fiel ihm aus der Hand und polterte dumpf auf den Steinboden. Rasch griff sich Gunde den Korb und rannte in Richtung Kapellenausgang. Schon stieß sie gegen die Tür, die sofort nach außen aufschwang. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Mönch war wieder auf den Beinen und machte Anstalten, sie zu verfolgen. Gunde lief den Flur entlang in Richtung Osten, wo sie den Ausgang des Laienhofs vermutete. Ihre Pantinen klapperten laut über die Steinfliesen. Hinter sich hörte sie die raschen Schritte ihres Verfolgers.
Plötzlich bemerkte sie vor sich einen Schatten und ein schemenhaftes Gesicht. Erschrocken wich sie zurück, um im nächsten Moment das vertraute Gesicht Agnetas vor sich zu sehen. Das Mädchen hielt einen Finger vor den Mund und bedeutete Gunde mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Es ging eine schmale Treppe hoch, dann um eine Ecke und gleich darauf öffnete Agneta eine Holztür. Im nächsten Moment schob sie Gunde hindurch. Gleich darauf war die Tür wieder verschlossen. Gunde roch Gras und Bäume. Vor sich hörte sie das Zirpen vieler Grillen. Sie befand sich im an den Laienhof angrenzenden Weinberg.
Sie hörte ihr pochendes Herz, als drinnen die keuchende Stimme ihres Verfolgers Agneta anherrschte. „Sahst du die Frau, Mädchen?“
„Was für eine Frau, ehrwürdiger Vater?“, antwortete Agneta unschuldig. Gunde hörte eine für einen frommen Mann eher unheilige Unwillensbekundung und Schritte, die sich eilig entfernten. Sie schlüpfte aus den Pantinen und steckte sie eilig in den Korb. Auf nackten Füßen rannte sie aus dem Weinberg und überquerte eine Wiese. Da hatte die Dunkelheit sie bereits verschluckt.

---